Gähnende Lee(h)re? Von wegen.
An der Justus-Liebig-Universität Gießen hat gerade das Sommersemester begonnen. In den Gängen und Hörsälen der Institute kriegt man davon so gut wie nichts mit. Wir haben Prof. Dr. Peter Klar befragt, wie er den Ausnahmezustand erlebt.
W3+: Herr Professor Klar, die Maßnahmen, um die Ausbreitung der COVID-19-Pandemie einzuschränken, sind überall spürbar. Was macht das mit dem Universitätsbetrieb?
Peter Klar: Es ist schon eine Art Ausnahmezustand: für die Universitätsleitung, die Dozierenden und die Studierenden, die Forschergruppen und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die hier den Universitätsbetrieb sonst am Laufen halten. Wir haben rund 29.000 Studierende und 5.600 Mitarbeiter, davon 400 Professorinnen und Professoren. Die Justus-Liebig-Universität Gießen ist wie eine mittelgroße Stadt, in der alle auf ihre Weise von den Einschränkungen betroffen sind.
W3+: Offizieller Semesterbeginn war am 14. April, der Termin wurde um eine Woche nach hinten verschoben. Das ist nicht wirklich viel Zeit, um zu reagieren.
Peter Klar: Richtig. Aber wir waren ja nicht unvorbereitet. Seit Anfang April haben wir uns in den Fachbereichen und übergeordneten Gremien intensiv mit den vielschichtigen Herausforderungen befasst, die auf uns zukommen würden. Durch die Verschiebung des Semesterstarts hatten wir eine Woche mehr Zeit.
W3+: Die naheliegende Antwort auf alle vielschichtigen Herausforderungen heißt momentan: „Macht doch einfach alles online!“
Peter Klar: Ganz genau! (lacht) Der gut gemeinte Rat, einfach alles online zu machen, ist tatsächlich naheliegend, aber in der Praxis nicht so einfach zu bewerkstelligen. Denn wir haben es hier mit komplizierten Lehrinhalten zu tun, die vermittelt werden wollen, und mit hochkomplexen Forschungsarbeiten, die weiterlaufen – und dann sieht man sich auch noch mit Streamingplattformen und Serverkapazitäten, mit Datensicherheit und Datenschutzrichtlinien konfrontiert.
W3+: Und wie sieht die Lösung aus?
Peter Klar: Wenn wir eine Lösung für alles hätten, wäre es deutlich einfacher. Bei Tutorien und Seminaren mit überschaubaren Teilnehmerzahlen nutzen wir natürlich Videokonferenz-Plattformen. Vorlesungen können wir entweder live streamen oder als aufgezeichnete Videoformate über unsere Server zur Verfügung stellen. Selbst wenn wir in der Vorlesung ein Experiment durchführen und zeigen wollen, geht das beim Streaming, zur Not kann man sich da auch mal mit bestehenden Videos im Internet behelfen. Aber es lassen sich eben nicht alle Veranstaltungsformate online adäquat durchführen. Das betrifft vor allem Praktika und experimentelle Abschlussarbeiten, wo die Studierenden selbst experimentieren müssen, das lässt sich online nicht realisieren.
W3+: Welche Erfahrungen haben Sie bei der Vorbereitung von Online-Inhalten gemacht?
Peter Klar: Rein technisch ist das kein Problem. Aber wir müssen eben auch immer mit einem Auge die Datenvolumen im Blick behalten. Gerade habe ich eine Vorlesung für 600 Studierende online aufbereitet: die Folien als PDF und die Vorlesung selbst als Tonspur. Das funktioniert ganz gut und frisst vor allem längst nicht so viel Datenvolumen wie ein Video. Aber eine andere Erkenntnis beschäftigt mich viel mehr: Man merkt plötzlich, wie wichtig in der Lehre und Forschung der direkte Kontakt und die Kommunikation zwischen den Menschen ist. Wenn ich die Tonspur der Vorlesung aufzeichne, spreche ich mit meinem Computer; ich kann nicht in die Gesichter der Studierenden schauen, um zu erkennen, ob sie etwas verstehen oder nicht verstehen.
W3+: Wie sieht es bei Ihnen aus? Sind Sie hauptsächlich im Home-Office aktiv?
Peter Klar: Nein, ich bin jeden Tag an der Uni und viele meiner Kolleginnen und Kollegen auch. Das gilt auch für die Forschungsgruppen, die ja ihre laufenden Forschungsprojekte und Experimente weiterhin betreuen und dokumentieren müssen. So arbeiten wir nach wie vor an zwei EU-geförderten Forschungsprojekten mit italienischer, spanischer, französischer und britischer Beteiligung. Während die dortigen Kolleginnen und Kollegen auf die Bremse treten mussten, können wir unter strikter Einhaltung der vorgeschriebenen Sicherheits- und Hygienevorschriften im sogenannten Basisbetrieb noch weiterarbeiten.
W3+: Trotz aller Einschränkungen – welche Chancen eröffnet die Corona-Krise aus Ihrer Sicht?
Peter Klar: Wir müssen die Situation positiv sehen und sollten die Krise als Chance begreifen, um gerade in der Lehre auch ein Stück aus den gewohnten Fahrwassern heraus zu kommen. Da werden wir sicher einen Schritt vorwärts machen. Ich sehe nicht, dass die Präsenzlehre ersetzbar ist, aber sie kann vielleicht doch vermehrt durch Zusatzangebote online angereichert werden. Die Klausurvorbereitung ist hier ein wichtiges Thema, bei dem zum Beispiel Online-Tutorien mit Aufgaben zur Selbstkontrolle in Zukunft angeboten werden können.
W3+: Wie lange werden Sie und auch die Studierenden mit der aktuellen Situation leben müssen?
Peter Klar: Wir dürfen ab Mai wieder Prüfungen abhalten, die verschoben werden mussten – sofern wir die bestehenden Vorschriften einhalten können. Bis zum 1. Juni wird die Universität Gießen keine Präsenzlehre anbieten. Es gibt einen Krisenstab des Universitätspräsidenten, der wöchentlich die Situation neu bewertet und die geltenden Richtlinien gegebenenfalls anpasst. Wie das Sommersemester 2020 verläuft, wird man sehen. Aber es wird – anders als es manche Medien kolportieren – ganz sicher kein verlorenes Semester sein!
Prof. Dr. Peter J. Klar
Geschäftsführender Direktor des I. Physikalischen Instituts
an der Justus-Liebig-Universität Gießen