Rolf Beck
Die Geschichte von Leitz und später Leica Microsystems ist in umfangreichen Archivalien und Sammlungsstücken dokumentiert. Jetzt wird das Archiv an das Hessische Wirtschaftsarchiv in Darmstadt übergeben. Im Interview blickt Rolf Beck zurück und nach vorn.
Nur wenige Unternehmen können von sich behaupten Technik- und Wirtschaftsgeschichte geschrieben zu haben. Leitz gehört zweifelsohne dazu. Entsprechend wertvoll ist das Archiv der heutigen Leica Microsystems GmbH. Hier hat sich Rolf Beck zwischen Ordnern und Kladden, Schubern und Dokumentenschränken seinen Arbeitsplatz eingerichtet.
W3+: Man sagt, Sie seien ein gebürtiger Leitzianer. Wie viel davon ist Wahrheit, wie viel davon Dichtung?
Rolf Beck: Wahr ist, dass ich von meiner Lehrzeit bei Leitz bis über die Pensionierung hinaus bei Leica Microsystems gearbeitet habe. Das sind mehr als 60 Jahre. Meine Faszination für Optik reicht allerdings noch weiter zurück. Mein Großonkel hatte eine Laterna Magica, mit der er zu besonderen Anlässen bunte Bilder an die Wand projizierte. Ich muss damals fünf Jahre alt gewesen sein. Zu Weihnachten wünschte ich mir auch so eine „Zauberlaterne“. Und ich bekam tatsächlich meine eigene Laterna Magica, mit der ich sogar Filme vorführen konnte. Im Krieg wurden wir ausgebombt und das heißgeliebte Gerät verbrannte. Das war für mich ein großer Verlust. Also habe ich mir später im Alter von zwölf Jahren eine Laterna Magica selbst gebaut – aus einer Konfektdose als Lampengehäuse und aus gefundenen Spielzeuglinsen. Diese steht noch heute bei mir zu Hause.
W3+: Ihr Weg in die optische Industrie war damit schon vorgezeichnet?
Rolf Beck: Mein Vater war selbstständiger Handelsvertreter für einen weltbekannten Schweizer Schokoladenhersteller. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich in seine Fußstapfen treten sollen. Meine Mutter aber erkannte meine Veranlagung für technische Dinge. Sie war es, die mich auf eine Zeitungsanzeige, in der die Ernst Leitz GmbH Lehrlinge für verschiedene Berufszweige suchte, aufmerksam machte. Ich bewarb mich und erhielt im November 1954 die Einladung zu einer Prüfung, bei der ich schließlich für geeignet befunden wurde. So begann ich meine Lehre zum technischen Kaufmann.
W3+: Leitz war also die erste Wahl?
Rolf Beck: Es gab damals viele gute Gründe Leitzianer zu werden und zu bleiben. Leitz war als Arbeitgeber weit über unsere Region hinaus sehr begehrt. Und zwar nicht nur wegen seines guten Rufes als Hersteller von Spitzenoptiken sondern auch wegen dem bemerkenswerten familiären Rückhalt und dem sozialen Engagement für die Belegschaft. Ich hatte das große Glück, Ernst Leitz II noch ganz kurz erleben zu dürfen. Er war nicht nur für mich als junger Lehrling eine prägende Figur.
W3+: Was muss man sich unter einer Lehre als technischer Kaufmann vorstellen?
Rolf Beck: Bei Leitz gab es Bürokaufleute, die zum Beispiel in der Buchhaltung eingesetzt wurden. Die technischen Kaufleute wurden für den weltweiten Vertrieb ausgebildet. Dabei lag der Schwerpunkt auf der technischen Ausbildung. Die beiden ersten Lehrjahre haben wir in der Lehrlingswerkstatt Mechanik und in den Montage- und Justierabteilungen verbracht. Ich habe während meiner Lehrzeit allein zwanzig komplizierte Leica Kameras montiert, die verkauft wurden. Das heißt, wir kannten alle Produkte in und auswendig.
W3+: Diese Expertise hat Sie auf verschiedenen Stationen im Unternehmen begleitet.
Rolf Beck: Richtig. Ich war zunächst in der Exportabteilung tätig. Vorher hatte ich meine Französischkenntnisse durch einen einjährigen Aufenthalt in der welschen Schweiz erweitert. Hierzu hatte mich Leitz auf eigenes Ersuchen freigestellt. Zur technischen Unterstützung des damaligen Vertreters arbeitete ich ein Jahr in Paris und bereiste Frankreich für die Sparten Mikroskopie und Fotografie. Für den Vertrieb in Deutschland war ich auch weiterhin als „Feuerwehr“ im Einsatz. Ganz besonders in Erinnerung geblieben ist mir die Tätigkeit für Leitz Hamburg.
Später war ich über viele Jahre hinweg als Produktmanager für den weltweiten Verkauf von optischen Instrumenten für die Kriminaltechnik voll verantwortlich. Hier hatte ich es unter anderem mit dem Bundeskriminalamt, dem FBI und Scotland Yard zu tun. Das war natürlich ein aufregendes und spannendes Geschäft, zumal unsere Firma seit hundert Jahren als klassischer Anbieter für solche Instrumente überall auf dem Globus bekannt ist. Egal wo ich hinkam – der gute Ruf unserer Produkte war mir bereits vorausgeeilt. Das hat mich immer wieder daran erinnert, wie wichtig die Herkunft und Tradition unserer Marke für die Produkte ist.
W3+: Rührt daher Ihr besonderes Interesse für die Geschichte von Leitz und Leica?
Rolf Beck: Ich denke schon. Mein Credo lautet: Zukunft braucht Herkunft. Die Geschichte ist ein maßgeblicher Teil eines Unternehmens und schafft Vertrauen in die Marke. Umso wichtiger ist es, alles zu sammeln und zu ordnen, was die Unternehmensgeschichte ausmacht. Dieses Bewusstsein war nicht immer so ausgeprägt. In einigen Phasen der Geschichte wurden von Leitz Dokumente, Zeichnungen, Entwürfe oder Modelle einfach weggeworfen, weil man sie seinerzeit nicht für wertvoll erachtete. Heute sieht man das glücklicherweise anders.
W3+: Seit 2000 betreuen Sie offiziell das Archiv, aber eigentlich haben Sie schon früher damit angefangen, oder?
Rolf Beck: Meine Faszination für die Optik führte dazu, dass ich sozusagen mein Leben lang Mikroskope und andere optische Instrumente gesammelt habe. Privat und beruflich. Im Laufe meiner langjährigen Tätigkeit für Leitz und später Leica Microsystems kam da einiges zusammen. Aber die Unternehmensgeschichte von Leitz geht ja – wenn man den eigentlichen Gründer Carl Kellner einbezieht – bis ins Jahr 1849 zurück, die Familiengeschichte von Leitz sogar noch weiter. Beides lässt sich kaum voneinander trennen. Entsprechend umfangreich sind die Quellen, die es zu berücksichtigen gilt: Sie reichen von Produktdokumentationen bis zu Kassenbüchern, von Carl Kellners Geschäftsbüchern bis zur Familienbibel der Familie Leitz, in der auf den ersten Seiten handschriftlich notiert ist: „Am 26. April 1843 um 10 Uhr wurde unser Sohn Ernst geboren“.
W3+: So ein umfangreiches Archiv erfordert eine detailgenaue Aufarbeitung. Aber es lebt auch davon, dass man auf überraschende Funde stößt.
Rolf Beck: Ja. Die große Aufgabe besteht in erster Linie darin, die Geschichte so zu erzählen oder zumindest zu rekonstruieren, wie sie war. Das ist nicht selbstverständlich. Wenn man allein schon die unzähligen Artikel und Berichte über die Erfindung der Kleinbildkamera durch Oskar Barnack liest, scheint jeder Experte seine eigene Wahrheit zu haben. Bei der Mikroskopie, deren Geschichte weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht, ist das ähnlich. Darüber hinaus haben wir auch immer das sogenannte „Wettbewerbsumfeld“ im Blick behalten: Im Zuge dessen tauchte bei einer Haushaltsauflösung in unserer Großfamilie zufällig ein Oberhäuser Mikroskop aus dem Jahr 1845 auf. Oberhäuser war damals einer der führenden Mikroskophersteller des Kontinents.
W3+: Wurden mit dem Gesellschafterwechsel in den 1990er-Jahren auch die Sammlungs- und Archivmaterialien aufgeteilt?
Rolf Beck: Die Archive wurden tatsächlich getrennt. Für mich unverständlich. Wenn man sich mit der Geschichte von Leitz auseinandersetzt, lässt sich diese Trennung gar nicht aufrechterhalten. Schließlich haben alle Unternehmen und Produkte, die heute noch Leica oder Leitz im Namen führen, dieselben Wurzeln und waren in der Vergangenheit immer miteinander verzahnt. Auf dieser Ebene haben wir uns intensiv ausgetauscht – insbesondere mit Günter Osterloh, der das Archiv von Leica Camera mit großem Einsatz und Fachwissen betreut. Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sich auch die Familie Leitz sehr für die Geschichte des Unternehmens engagiert, die ja für sie unweigerlich auch ein Teil ihrer Familiengeschichte ist.
W3+: Welchen Wert hat das Archiv für Sie?
Rolf Beck: Der monetäre Wert lässt sich nicht beziffern. Viel entscheidender ist der ideelle Wert. Und zwar nicht nur für mich, sondern für die ganze Gesellschaft. Deshalb soll die Geschichte von Leitz und Leica Microsystems im Hessischen Wirtschaftsarchiv auch weiterhin für Experten und die interessierte Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Schließlich lebt das Archiv davon, dass es laufend ergänzt und mit ihm gearbeitet wird. So bleibt Unternehmensgeschichte lebendig.
W3+: Mit mehr als 60 Jahren Firmenzugehörigkeit sind Sie inzwischen selbst Teil der Unternehmensgeschichte. Fällt es Ihnen schwer, das Archiv aus den Händen zu geben?
Rolf Beck: Nein, gar nicht. Die Dokumente und Archivalien werden von den Mitarbeitern des Hessischen Wirtschaftsarchivs äußerst sorgfältig betreut und fachkundig gepflegt. Die Sammlung historischer Mikroskope wird ebenfalls dem HWA zur Verwaltung übergeben, aber weiterhin im Neuen Rathaus Wetzlar zu sehen sein. Wenn man mich braucht, stehe ich nach wie vor mit Rat und Tat gerne zur Verfügung. Insofern kann ich versichern, dass das Archiv auch künftig in besten Händen sein wird.