Lift-Off
Der neue Studiengang Physik und Technologie für Raumfahrtanwendungen hat buchstäblich einen Raketenstart hingelegt. Wir haben Prof. Dr. Peter Klar von der Universität Gießen gefragt, wie er sich das erklärt.
Von langer Hand wurde der neue Bachelorstudiengang Physik und Technologie für Raumfahrtanwendungen (PTRA) geplant und vorbereitet. Das Besondere: Der Studiengang sollte das Beste aus zwei Hochschulen vereinen, und zwar in Kooperation zwischen der Justus-Liebig-Universität (JLU) Gießen und der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM).
Physikalische und elektrotechnische Aspekte der Raumfahrt
Vor zwei Jahren, als die Verantwortlichen den Countdown runterzählten, herrschte – wie bei jedem Raketenstart – Sorge, Ungewissheit, gepaart mit vorsichtigem Optimismus. „Wir hatten bei der Einführung natürlich Lampenfieber und Sorgen, ob wir unsere Versprechen gegenüber der Hochschule einhalten konnten, insbesondere, weil sich die Akkreditierung des Studiengangs verzögert hatte und wir ihn erst spät bewerben konnten. Unsere Erwartungen sind aber voll erfüllt worden!“, freut sich Prof. Dr. Peter Klar vom I. Physikalischen Institut an der JLU Gießen.
Zum Wintersemester 2017 begannen mehr als 50 Studienanfängerinnen und -anfänger, im folgenden Jahr noch mal 50. Die Studierenden kommen aus ganz Deutschland, weil der Studiengang ein Feld abdeckt, das es – bis auf eine ähnliche Ausrichtung an der Universität Bremen – so nicht gibt. „Die klassischen Studiengänge umfassen sowohl Luftfahrt als auch Raumfahrt und sind typischerweise im Maschinenbau angesiedelt. Bei uns steht die Raumfahrt im Vordergrund, und zwar insbesondere die physikalischen und elektrotechnischen Aspekte, die immer wichtiger werden“, erklärt Professor Klar. Die JLU mit ihren physikalischen Experimentierfeldern und die THM mit ihrer ingenieurswissenschaftlichen Ausrichtung ergänzen sich da perfekt.
Interdisziplinäres Studienprogramm an zwei Hochschulen
Das PTRA-Studienprogramm besteht zu gleichen Teilen aus Physik und Elektrotechnik, ist entsprechend interdisziplinär ausgerichtet und wird von beiden Hochschulen gemeinsam getragen. Im Laufe des Studiums kommen immer mehr raumfahrtspezifische Elemente hinzu. Dabei kann die JLU an ihren hervorragenden Ruf im Bereich elektrische Raumfahrtantriebe anknüpfen, der eng mit einem ehemaligen Professor verbunden ist: „Horst Löb leistete Anfang der 1960er-Jahre wahre Pionierarbeit auf diesem Gebiet“, so Professor Klar, „die Triebwerke des später von ihm entwickelten RIT-Typs gehören zu den vielleicht drei oder vier Ionentriebwerkstypen, die sich bis heute am Markt der mittleren bis großen Triebwerke durchgesetzt haben.“ Dass Tradition verpflichtet, ist bekanntermaßen ein hehrer Anspruch; aber in dem neuen Studiengang führt diese Verpflichtung direkt in die heutige Zeit und von dort aus in die Zukunft der Raumfahrt. Denn zum einen vollzieht sich aktuell ein Paradigmenwechsel von chemischen zu elektrischen Satellitenantrieben; zum anderen gibt es neben den nationalen Raumfahrtagenturen immer mehr kommerzielle Akteure, die den Weltraum für sich entdecken.
In diesem potenzialreichen Gefüge eröffnen sich für die PTRA-Studierenden hervorragende Möglichkeiten, die sie schon während des Studiums nutzen können. „Eine unserer Studentinnen“, erzählt Professor Klar, „ist gerade für drei Monate bei einem ONERA-Institut in Paris und forscht dort im Rahmen ihres Praktikums an einem neuen Triebwerkstyp.“ ONERA ist der französische Gegenpart zum Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), und solche Einbindungen in internationale Raumfahrtprojekte sind für Studierende wie Lehrende in dem neuen Studiengang besonders reizvoll.
Glänzende Perspektiven nach dem Studium
Auch nach dem Studium sind die Perspektiven glänzend, ist Professor Klar überzeugt: „Die Raumfahrt wird mutiger und dynamischer, viele neue Aufgaben stellen sich. Unsere PTRA-Absolventinnen und Absolventen erfüllen ein Anforderungsprofil zwischen Physik und Elektrotechnik, das in der boomenden Raumfahrtindustrie sehr gefragt ist. Darüber hinaus gehört der PTRA-Studiengang sowieso zu den Ingenieurwissenschaften und harten Naturwissenschaften, da sind die Ampeln für die Berufsaussichten in Deutschland definitiv auf Grün, nicht nur im Raumfahrtsektor.“
Und alle, die nach dem Bachelorstudium noch nicht genug haben, können sich auf den Master-Studiengang freuen, der plangemäß zum Wintersemester 2020/2021 anlaufen soll. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. An der THM wird gerade eine Professur „Raumfahrtelektronik“ neu besetzt, an der JLU ist ebenfalls eine weitere Professur im Bereich „Raumfahrtphysik“ geplant. Zudem soll das Zentrum für Materialforschung an der JLU mit Blick auf die spezifischen Anforderungen an „Raumfahrtmaterialien“ stärker einbezogen werden. Der nächste Raketenstart steht also schon bevor. Der Countdown läuft.